„Nur wer seine Wurzeln kennt, kann wachsen“, so ein Zitat von Anselm Grün in seinem 2012 erschienenen Buch „Wurzeln“. „Nur wer Abschied nehmen kann, kann leben“, drängt sich förmlich als Zusammenfassung jenes Bandes auf, den ich dieses Mal zur Lektüre empfehle. Es ist wohl kein Zufall, dass ich „Abschiede – Aufbruch in neue Welten“ gerade zur Fastenzeit zur Hand genommen habe und in der Karwoche rezensiere. Gerade für uns Christen sind es das Leben, Sterben und die Auferstehung Jesu Christi, die uns im besten Sinne dazu anleiten „abschiedlich zu leben“.
EINE WELT VOLLER ABSCHIEDE
Nicht nur unser Leben geht unweigerlich auf einen letzten Abschied zu, auch das Weltgeschehen ist aktuell mehr denn je von Umbrüchen geprägt, die Altes vergehen und Neues entstehen lassen. Als im schlechtesten Sinne deutliches Beispiel geht Anselm Grün auf Kriege ein, aber auch der „Corona-Schock“ mit allen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verwerfungen, Migration, Flucht und Vertreibung und geopolitische Veränderungen fordern uns. Und sie bringen zusätzliche Notwendigkeit zur Veränderung – zum Loslassen und Neuanfangen – in unsere Leben. Immer wenn Pläne durchkreuzt werden, wenn das Schicksal „zuschlägt“, wenn der Druck zu groß wird oder man verletzt wird, schenkt einem das Leben Gelegenheiten, den Abschied zu „proben“, zu „üben“ für das Ende, dem niemand ausweichen kann, das wir aber allzu gern verdrängen. So sieht es jedenfalls Anselm Grün und lädt daher ein, vordergründig zerstörerische oder ausweglose Situationen und schmerzliche Verluste neu zu begreifen.
UNSER UMGANG MIT DER ZEIT
Kapitel für Kapitel schildert der Autor konkrete Herausforderungen in einzelnen Lebensbereichen – in Familien und Beziehungen, im Beruf und (Ehren-)Amt oder im Zugang zu Gott und Kirche. Es geht um Abschiede von Menschen und Macht, von Stress und materiellen Besitztümern, ebenso wie von Traditionen und ideellen Orientierungen. Besonders interessant für den Alltag finde ich seine Betrachtungen über unseren Umgang mit Zeit: „Es braucht immer einen Anfang und ein Ende. Und Unterbrechung“, kann man ihn sinngemäß zusammenfassen. Es ist ein Plädoyer für bewusstes Wahrnehmen, für Maßhalten zwischen Prokrastination und „Sofortismus“.
„Das Gesetz des Anfanges und Beendens gilt überall in unserem Leben, für das was wir tun, aber auch für unsere Beziehungen“, hält Grün an anderer Stelle fest. „Anfangen und beenden gelingen nur, wenn wir loslassen, wenn wir uns verabschieden von der Unverbindlichkeit.“
SPIRITUELL UND PRAXISTAUGLICH
… zugleich sind einmal mehr Pater Anselm Grüns Betrachtungen. Es überrascht mich nicht, dass diese Kombination gerade einem Benediktiner gelingt, habe ich doch – selber Schülerin am Melker Stiftsgymnasium, dem Ort und seinen Menschen weiterhin verbunden – immer wieder erfahren dürfen, was „Ora et labora“ für das Wirken des Ordens und der Patres bedeutet. Als Theologe, Mönch, Autor und vor allem als geistlicher Begleiter schöpft Pater Anselm aus einem reichen Schatz an Erinnerungen und Erfahrungen, an Geschichten, die er mit Leserin und Leser anschaulich teilt. Jene „Zehn Haltungen“, die er für ein „abschiedliches“ Leben empfiehlt, sind demzufolge spirituell fundiert UND praktisch umsetzbar. Und mögen allen, die nun zu diesem Buch greifen, eine echte Handreichung sein. In diesem Sinne: FROHE OSTERN und auf viele gelungene Abschiede und mutige Neuanfänge in diesem Jahr!