Im Rahmen des Campus-Opening 2022 lud die Politische Akademie Barbara Zehnpfennig, emeritierte Politikwissenschaftlerin für politische Theorien, an der Universität Passau ein, zum Thema Philosophie des Bürgerlichen zu sprechen. Zehnpfennig ging dabei auf die gegenwärtigen Zerreißproben unserer Demokratie ein. Der folgende Artikel fasst Zehnpfennigs Keynote zusammen.
Demokratie als neues Hassobjekt in der Geopolitik
Durch die Rückkehr der Diktaturen und den Krieg in der Ukraine wird das demokratische Modell an sich in Frage gestellt. Die großen Machtblöcke China und Russland sind anti-westlich eingestellt und der Islamismus hat die westliche Demokratie zu seinem Hassgegner erklärt. Von diesen totalitären Systemen wird der Westen als schwach und dekadent empfunden.
Hausgemachte Probleme
Doch jenseits dieser äußeren Bedrohungen haben die liberalen Demokratien auch mit hausgemachten Problemen zu kämpfen. Populistische Bewegungen geben sich als Stimme des Volkes aus. Sie behaupten, dass die politische Elite sich so weit vom Volk entfernt hat, dass sie nicht mehr weiß, was das Volk eigentlich denkt. Und Populisten behaupten außerdem, dass „das Volk“ gegen weitere Zuwanderung ist, die Maßnahmen anlässlich der Klimakrise und der Corona-Pandemie überzogen sind und es keinen Sinn ergibt, für die Ukraine zu frieren. Themen auf, die innerhalb der Gesellschaft Populisten greifen also geschickt tatsächlich strittig sind und fordern unter Berufung auf den angeblichen Volkswillen ein Ende der Debatte – natürlich in ihrem Sinn. Populisten mangelt es also am Willen, sich mit den Positionen der Mitbewerber ernsthaft auseinanderzusetzen. Wenn Parteien, die ganz grundsätzlich mit dem politischen System abrechnen wollen, starken Zulauf bekommen, ist das aber immer ein ernstzunehmender Indikator für eine verbreitete Unzufriedenheit in der Bevölkerung.
Demokratie als Raum der Verständigung
Das Wohlergehen unserer Demokratie und ihre Fähigkeit, Krisen zu bewältigen, hängt stark von dem Geist der Bürgerinnen und Bürger ab, am demokratischen Leben teilzunehmen Die Vielfalt, die aus der Freiheit in der Demokratie erwächst, hat den Sinn, den Raum für das gemeinsame Nachdenken und Argumentieren zu öffnen, statt Wahrheiten, die keine sind, zu verkünden. Die Demokratie hat die Wahrheit nicht schon, aber sie sucht sie unablässig. Je mehr Menschen sich an dieser Suche beteiligen, umso stabiler ist die Demokratie. Weil die Demokratie ein freies System ist, ist nicht alles punktgenau festgelegt, sondern Demokratie ist vor allem Raum für einen stetigen Prozess der Verständigung. Das ist ihr Risiko, aber auch ihre Chance: Jeder Bürger, jede Bürgerin kann diese Chance ergreifen, indem er oder sie sich für die eigene politische Ordnung mitverantwortlich fühlt, indem das Gemeinwesen als eigene Angelegenheit betrachtet wird. Und indem man sich nicht hinter den eigenen Meinungen verschanzt, sondern im offenen Dialog mit anderen Bürgerinnen und Bürgern und Parteien die Möglichkeit erkennt, dazuzulernen und konstruktiv zum politischen Prozess beizutragen.
Diktaturen wollen ihre Bürger immer entmündigen. Demokratien setzen hingegen auf die Mündigkeit ihrer Bürger. Diese Mündigkeit können sich Bürgerinnen und Bürger nur selbst erarbeiten, denn Mündigkeit und Eigenverantwortung werden nicht vom Staat gewährt. Zehnpfennig lud abschließend ein, die eigene staatsbürgerliche Arbeit aktiv anzugehen.